Viel
früher als gedacht, tauchten die ersten Lichter von Korsika in der Kimm auf.
Zuerst glaubten wir,
ein weiteres Schiff kreuze unseren Kurs, aber bald war klar, der
Leuchtturm Punta di a Chiappa gab
uns sicheres Geleit zur Einfahrt in den Golf von Veccio.
Doch gemach, gemach, noch waren es einige
Stunden, bis wir sie erreichen konnten. Schon oft hatte ich diesen Effekt
erlebt, dass man die Lichter
der nahenden Küste zum Greifen nahe wähnte, aber dann noch Stunden vergingen,
ehe man sie erreicht
hatte. Was müssen die Seeleute vergangener Tage gespürt haben, wenn sie nach
wochen- oder
monatelanger Kreuzfahrt endlich die heimatlichen Lichter am Horizont
erblickten, die doch noch so
weit entfernt leuchteten.
Bald konnten wir weitere Lichter an Land erkennen. Kleine Orte vielleicht,
Hotels am Strand oder
versteckte Fischerhäfen.
Es ist sicher schwer, nachts auf eine völlig dunkle Küste zu zufahren, aber es
ist auch nicht viel leichter,
die Feuer der Hafeneinfahrt an einer von tausenden Lichtern erhellten Küste
sicher anzusteuern.
Ich habe von erfahrenen Skippern gehört, dass sie bei schwerem Wetter den
Yachthafen von Rom
nicht angelaufen sind, weil sie durch die Unzahl der Lichter des dahinter
liegenden Airports völlig irritiert
wurden. Ich selbst bin nachts zwischen der kleinen Insel Formentera und Ibiza hindurchgefahren, im
Hintergrund die belebte Stadt Ibiza, den Flughafen und dazwischen irgendwo die
befeuerten Seezeichen
der Untiefen vor der Küste. Da war größte Wachsamkeit geboten!
"Schätzt
doch mal“, fragt Olaf, „wie weit ist es bis zum Leuchtturm von hier
aus?“
Prüfend
neigen sich unsere Köpfe im nächtlichen Himmel von backbord nach steuerbord und
zurück.
Unentschlossen zögernd gaben wir unsere Schätzungen wie Tippscheine beim
Buchmacher ab;
mancher gleich drei oder vier, die Gewinnchancen erhöhend. Enorm groß dann die
Streuung,
von 5 bis 20 Seemeilen war so fast alles vertreten.
„Ich
denke, dass können wir viel genauer bestimmen, auch ohne das GPS zu bemühen.
Versucht
es doch mal mit der so genannte Kimmformel“, sagt Olaf, „mit deren
Hilfe – so steht es in den
schlauen Büchern geschrieben – kann man recht genaue Ergebnisse erzielen.
Also:
t
ist die Höhe des Lichtes über dem Meer [in m] und a ist die Augenhöhe [in
m].
Sofort
war Steinchen unter Deck, tauchte aufgeregt mit seinem gelben Heft und der
Taschenlampe
wieder auf, um sich über die Formel her zu machen. Das war für ihn ja wie eine
Erdbeertorte:
Eine richtige Formel, mit Summe und Produkt, und als Sahnehäubchen gab es sogar
noch zwei
Quadratwurzeln dazu. Aber auch zu unserer großen Freude, denn diese Formel
sollte uns einige
Zeit morgendliche Ruhe und Andacht bescheren. Und das länger als gedacht, denn
er saß in seinen
Bleistift verbissen und grübelte und grübelte. Hatte Steinchen etwa Probleme
mit den Sahnehäubchen?
"Wenn
du noch lange rechnest, brauchen wir das Ergebnis nicht mehr, denn dann sind
wir da!“ drängte Olaf.
Das
wurmte Steinchen, er atmete tief durch. „Zum Leuchtturm sind es nach
deiner Formel noch
genau 19,46 sm. Das ist leicht zu ermitteln.
Feuerhöhe
des Leuchtturms laut
Seekarte
64 m
unsere Augenhöhe über Wasser
ca. 2 m
Entfernung
= 2,075 * (QW(64) + QW(2)) = 19,46 sm
Also etwa noch 20 Seemeilen.“
Anerkennend
nickten wir Steinchen zu, der war aber noch nicht zufrieden mit sich und der
Welt.
„Aber ich habe mir die Formel näher angeschaut und komme noch immer nicht
mit dem Faktor 2,075 klar.
Bist du dir ganz sicher, Olaf? Nach meinen Rechnungen sollte der Faktor 1,928
lauten.“
„Absolut sicher! 2,075 steht in den Büchern.“
Steinchen beißt sich wieder an seinem Stift fest. „Verstehe ich nicht,
sollte größer 2 sein… Habt ihr dazu
eine Idee?“, fragt er und zeigt uns in seinem gelben Heft:
Gesucht ist die Entfernung E = A +
T
In der Skizze entstehen zwei rechtwinklige Dreiecke, wenn wir den Betrachter und den Turm zum
Erdmittelpunkt M verbinden.
Im Punkt W berührt die Blickgerade die Wasseroberfläche (Tangente).
Nun müssen wir wieder einmal die alten Gelehrten bemühen:
Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Katheten-
Quadrate gleich dem Quadrat über der Hypotenuse,
sagt der alte Pytagoras
Für unseren Fall heißt das:
T2 + R2 = (R + t)2
und A2 + R2
= (R + a)2
und ergibt:
T2 = R2 + 2Rt + t2 – R2
A2
= R2 + 2R
T2 = 2Rt + t2 A2
= 2Ra + a2
(6 378 000 m) die Terms t2 und a2 vernachlässigbar sind.
Wir können also annehmen
T2 = 2Rt
und A2
= 2Ra
Für die Entfernung in Metern erhalten wir jetzt:
T
+ A = QW(2R) * ( QW( t ) + QW ( a ))=
QW (2 * 6.378.000) * (Q W( t ) + QW ( a ))=
3,571 * ( QW( t ) + QW ( a )
Wir teilen durch 1,852 (Umrechnung in Seemeilen) und erhalten
E = 1,928 * ( QW( t ) + QW ( a ))
Aber die Lehrbuchformel
enthält den Faktor 2,075.“
Steinchen schaut uns traurig an, wir schauen
traurig zurück.
„Vielleicht hat sich eben dein Pythagoras
getäuscht!“ rief Peter, der die Mathestunde vom Ruder aus verfolgte,
immer mit Blick vorab auf das Leuchtfeuer.
Zu Steinchens Traurigkeit gesellte sich nun auch noch tiefes Mitleid.
„Es
gibt wohl keinen Satz der Mathematik, für den man sich mehr Beweise ausgedacht
hat, als für den Satz des Pythagoras. Ich glaube es sind
über 90. Der für mich schönste ist einfach genial und genial einfach!“ sagt
Steinchen und skizziert in das gelbe Ungeheuer:
Aus
(a + b)2 = 4 * ( ½ ab ) + c2 folgt
a2
+ 2ab + b2 = 2ab + c2
a2 + b2 = c2
Steinchens
Gesicht erstrahlt kurz nach diesem genialen Streich. Doch was ist nun mit dem
Faktor in der Kimm- Formel?
„Da bist du mit deiner Mathematik am Ende, Steinchen.“ sagt Peter.
„Ab hier ist es nämlich reine Physik:
Ich denke, das hängt mit der Ablenkung der Lichtstrahlen in der Atmosphäre
zusammen, in der Optik nennt man diesen Effekt Refraktion.
Er wirkt besonders, wenn wir die Lichtstrahlen im spitzen Winkel zu den
Luftschichten der Atmosphäre wahrnehmen.
Daher sollte er in der Formel nicht vernachlässigt werden. Immerhin kann der
Lichtstrahl in Horizontnähe bis zu 0,5° abgelenkt werden,
das entspricht etwa der scheinbaren Sonnengröße am Himmel.
Wir schauen an einem Sommerabend verträumt in die Sonne. Wenn diese in das Meer
eintaucht, dann ist sie aber eigentlich schon gar nicht mehr da.“
„Du kannst einem ja jede Romantik nehmen! Aber mit der Lichtbrechung hast
du Recht. Der Faktor 2,075 berücksichtigt die Refraktion und
damit ist die Kimm-Formel eine gute Näherung für die
Entfernung zu einem Feuer in der Kimm.“ fasste Steinchen befriedigt
zusammen.
„Doch
eine Frage ist noch offen, Olaf. Wie war das mit dem Erdradius? Du sagtest, man
kann ihn ausrechnen?“